9.1 Schriftsprache

Neben der gegenständlichen Fixierung von Produktionswissen ›in‹ den hergestellten Gebrauchsgegenständen und Arbeitsmitteln und ihrem überregionalen Austausch, ist die stofflich-dauerhafte Fixierung symbolischer Bedeutungen entscheidender Faktor für die Durchsetzung der gesamtgesellschaftlichen Integration. Die Sprache war noch vor dem Dominanzwechsel entstanden (vgl. Kap. 6.3 [1]), womit ein Medium symbolisch-begrifflicher Repräsentanz gegenständlicher Bedeutungen zur Verfügung stand. Sie war jedoch an den aktuellen Sprechvorgang gebunden, so dass eine Erfahrungsweitergabe nur durch (noch ›tierische‹) soziale Traditionsbildung erfolgen konnte.

Dies ändert sich nun qualitativ:

»Nach dem Dominanzwechsel von der phylogenetischen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung dagegen wurde die Sprache zum umfassenden Mittel der symbolischen Repräsentanz der dabei entstehenden raumzeitlich übergreifenden verselbständigten Bedeutungsstrukturen. Dies wurde dadurch möglich, dass der Sprache im Zuge der Entstehung von Produktionsweisen als gesamtgesellschaftlichen Strukturen über die akustischen Signale als Träger der Kommunikation hinaus ein neues Medium von gegenständlich-überdauernder Beschaffenheit zuwuchs, das Medium der Schrift.« (230)

Holzkamp geht in der GdP davon aus, dass bildende Kunst und Schrift die jungsteinzeitliche bildliche Symbolik als gemeinsamen Ursprung besitzen. In einem eigenen Entwicklungszug entwickeln sich aus bildlichen Repräsentanzen sprachlich-lautlicher Bedeutungen über eine zunehmende Abstraktion (Piktogramme, Ideogramme, Phonogramme, Determinative, Zeichensysteme, Alphabete) und soziale Vereindeutigungen verschiedene Schriftsprachen. Durch den Abstraktionsprozess kam es zu verselbstständigten Entwicklungen der Zeichen- und der Bedeutungsseite von Sprachen. Gleiche Bedeutungen sind so mittels unterschiedlicher Zeichen darstell- und folglich ineinander übersetzbar.

Holzkamp betont, dass Zeichen zwar wechselseitig ersetzt werden können, aber ohne einen Begriff, den sie darstellen, niemals die Zeichensphäre verlassen, sondern »quasi in der Luft« (232) hängen:

»Niemand versteht, auf was sich die Bezeichnung ›Hammer‹ und ›martello‹ gleichermaßen beziehen soll, wenn er nicht einen Begriff hat, der die gesellschaftlich produzierte gegenständliche Bedeutung als spezifische verallgemeinerte ›Brauchbarkeit‹ dessen, was einmal ›Hammer‹ und einmal ›martello‹ genannt wird (und beliebig anders genannt werden kann) repräsentiert. ›Begriffe‹ sind also, anders als die Zeichen, mit denen sie kommuniziert werden, keineswegs austauschbar und u.U. bloßes Konventionsresultat, sondern … in letzter Instanz über die Bedeutungen, die sie repräsentieren, symbolische Fassungen der von Menschen geschaffenen gegenständlichsozialen Verhältnisse in ihrer wirklichen Beschaffenheit.« (231)

Kurz: Zeichen können Konventionsresultat sein, die Bedeutungen, auf die sie sich beziehen, jedoch nicht, denn diese sind Resultat der vorsorgenden Herstellung der Lebensbedingungen.

Dies gilt im strengen Sinne auch für künstlich geschaffene ›Kleinwelten‹, für die Zeichen-Bedeutungs-Relationen explizit festgelegt werden (etwa durch Computerprogramme). Innerhalb der ›Kleinwelt‹ kann zwar das Zeichen X die Aktion Y ›bedeuten‹, bezüglich der realen Lebenswelt, in der solche Kleinwelten geschaffen wurden, handelt es sich jedoch nur um Zeichenwechsel (etwa von einer Bitfolge im Speicher zu einem farbigen Bildpunkt auf einem Bildschirm), deren Bedeutungsgehalt sich erst durch den Bezug zur menschlichen Lebenswelt ›außerhalb‹ des Computers ergibt.

Mit diesem Beispiel wird auch deutlich, dass zeichenbasierte Sprachen ein Aspekt gesellschaftlicher Vergegenständlichungen sind. Der sprachliche Speicher wird zum Bestandteil des gesellschaftlichen Speichers und folglich auch der übergreifenden Funktionseinheit aus gesellschaftlichem und physiologischem Speicher (vgl. Kap. 7.5 [2]). Sprachformen sind Denkformen, seien dies Wissenschaftssysteme (Mathematik, Logik, Einzelwissenschaften) oder Ideologien zur Bewältigung der Denk- und Orientierungsanforderungen im Alltag:

»Zur gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz gehört mithin auch die Vermitteltheit der jeweils aktuellen sprachlichen Kommunikation zwischen Individuen durch die objektiven gesellschaftlichen Sprachverhältnisse« (232)

Durch die potenzielle Abwesenheit der gemeinten Sache im schriftsprachlich Dargestellten entsteht eine neue Größenordung der Kumulation gesellschaftlich überdauernder Erfahrungen und Diskurse. Die naturhafte Umwelt wird nun vollends zur geschaffenen Welt auf Basis der »Synthese sämtlicher Daseinsbezüge durch die gesellschaftlich produzierten Bedeutungsverweisungen« (233), in die dann auch das Nichtproduzierte in seiner mittelbaren Bedeutung einbezogen wird: ›Natur‹ als noch zu Verarbeitendes, ›Natur‹ als Unberührtes in abstrakter Entgegensetzung zum Produzierten etc.

 

Niemand versteht, auf was sich die Bezeichnung ›Hammer‹ und ›martello‹ gleichermaßen beziehen soll, wenn er nicht einen Begriff hat, der die gesellschaftlich produzierte gegenständliche Bedeutung als spezifische verallgemeinerte ›Brauchbarkeit‹ dessen, was einmal ›Hammer‹ und einmal ›martello‹ genannt wird (und beliebig anders genannt werden kann) repräsentiert. ›Begriffe‹ sind also, anders als die Zeichen, mit denen sie kommuniziert werden, keineswegs austauschbar und u.U. bloßes Konventionsresultat, sondern (wie dargestellt) in letzter Instanz über die Bedeutungen, die sie repräsentieren, symbolische Fassungen der von Menschen geschaffenen gegenständlichsozialen Verhältnisse in ihrer wirklichen Beschaffenheit.


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[1] Kap. 6.3: http://grundlegung.de/artikel/6-3-entstehung-der-sprache-aus-praktischen-begriffen/

[2] Kap. 7.5: http://grundlegung.de/artikel/7-5-physiologischer-und-gesellschaftlicher-speicher/