11.2 Selbstverständigung und Prämissen

Meine individuellen Handlungsgründe sind keine isolierten, von anderen Menschen getrennten und damit uneinsehbaren Gründe, sondern als verallgemeinerter Anderer, der ich für Andere bin, sind auch meine Gründe potenziell allgemeiner, also intersubjektiv verständlicher Art. Damit fallen auch das Verständlich-Machen meiner Handlungen für andere und meine eigene Selbstverständigung zusammen:

»Wenn ich meine Handlungen nicht (durch ihren subjektiven Bedürfnis- und Interessenbezug) vor anderen begründen könnte, so kann ich sie auch nicht vor mir selbst begründen« (350)

Über die verallgemeinerte Verständlichkeit und Begründtheit bin ich in den objektiven Handlungszusammenhang und die Bedeutungs- und Denkstrukturen einbezogen. Das ist für mich existenziell notwendig und verdeutlicht die Brisanz psychischer Erkrankungen, bei denen dies nicht mehr oder nur noch partiell gegeben ist:

»Soweit ich selbst und andere nicht mehr den Anspruch auf ›Verständlichkeit‹ an meine Handlungen stellen, nicht mehr die Handlungen unter der ›Fragestellung‹ ihrer Begründetheit und Verständlichkeit wahrnehmen und beurteilen, bin ich quasi aus der ›menschlichen Gemeinschaft‹ ausgeschlossen, meiner ›Mitmenschlichkeit‹, damit ›Menschlichkeit‹ entkleidet, also auf elementare Weise in meiner Existenz negiert.« (351)

Abb. 27: Bedingungen, Prämissen, Gründe, Handlung (Klicken zum Vergrößern)

Die grundsätzliche Verständlichkeit als Ebene der menschlich-gesellschaftlichen Integration bedeutet nicht, dass alle Handlungen immer auch aktuell verständlich sind. Sofern die Prämissen, aus denen sich die Verständlichkeit ergeben würde, nicht bekannt sind, können Handlungen auch ›unverständlich‹, ›nicht nachvollziehbar‹, ›wirr‹ oder ›verrückt‹ erscheinen. Das Verständlich-Machen, also die soziale Selbstverständigung, schließt folglich notwendig die »Aufklärung der Begründungsprämissen« (ebd.) ein. Unverständlich kann nur etwas sein, was prinzipiell verständlich ist und verständlich gemacht werden kann.

Prämissen sind meine personalen Lebensbedingungen wie ich sie in meiner Position und Lebenslage (vgl. Kap. 8.3 [1]) erfahre und zur Grundlage meiner Handlungsgründe mache. Abb. 27 veranschaulicht diesen Zusammenhang.

Die gesellschaftlichen Zielkonstellationen bilden den objektiven Handlungszusammenhang. Der mir zugekehrte Ausschnitt der gesellschaftlichen Bedingungen sind meine Position und Lebenslage, wie sie sich in meiner Realbiographie herausbildeten. Zu den Bedingungen gehören also nicht nur die äußeren, sondern auch die personalen Bedingungen als Erfahrungen der früheren Auseinandersetzungen mit den Bedingungen. Dabei

»ist hier zu berücksichtigen, dass die ›äußeren‹ wie ›personalen‹ Lebensbedingungen nicht als solche für die menschliche Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit bestimmend sind, sondern in ihrem ›phänomenalen‹ Aspekt, also in der Art und Weise, wie sie vom Subjekt als seine ›Situation‹, seine persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, sein Vergangenheits- und Zukunftsbezug etc. erfahren, emotional bewertet, in motivierte oder erzwungene Handlungen umgesetzt werden« (353)

Die Prämissen befinden sich somit einerseits auf der Weltseite, insofern sie der Ausschnitt meiner Lebensbedingungen sind, die meine Handlungsmöglichkeiten bestimmen. Andererseits befinden sie sich gleichzeitig auf der Individuumsseite, weil sie aktiv ›ausgegliedert‹ werden, das heißt, es sind jene Bedeutungen, die für meine Handlungsgründe entsprechend meiner Bedürfnisse für mich relevant sind und sowohl die konkreten Handlungsmöglichkeiten wie ihre Einschränkungen ausmachen. Handlungfähigkeit ist folglich immer das Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbehinderungen. Im Zentrum der Aufklärung einer subjektiven Problematik steht immer der Prämissen-Gründe-Zusammenhang als Kern des allgemeineren Bedingungs-Begründungs-Zusammenhangs.


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